Kairos: was am richtigen Ort zur richtigen Zeit passiert

Wieviel eigene Entscheidung liegt im Aufschieben?

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Aufschieben einer Erledigung oder Entscheidung nicht als das Ergebnis einer autonomen Entscheidung, sondern vielmehr als das Zulassen einer Nicht-Entscheidung: Einer angenehmeren Tätigkeit wird Gelegenheit gegeben, sich in die eigentliche Planung einzuschleichen, ohne dass sie dazu explizit einen Auftrag erhalten hätte, und ohne dass der Ursprungsplanung dadurch eine entschiedenen Abfuhr erteilt würde. So verdichtet sich einfach nur die Erledigungsmenge in Richtung Zukunft insgesamt.

Prokrastination hat nach allgemeiner Erfahrung etwas mit Zeit zu tun, und zwar einerseits mit dem Zeitpunkt, an dem eine Sache erledigt sein muss, und andererseits mit dem davor liegenden Zeitraum, der für die Erledigung zur Verfügung steht.

Während die Uhr -Zeit sich auf den Zeitpunkt mit der sturen Regelmäßigkeit eines Uhrwerks zubewegt, füllt sich der Zeit-Raum sehr unterschiedlich mit mehr oder weniger zielführenden Aktivitäten. Die alten Griechen trugen dieser unterschiedlichen Zeiterfahrung Rechnung, indem sie die gleichmäßig dahinfließende Zeit dem Gott Chronos zuordneten (wir nennen heute noch den Zeitmesser „Chronometer“), den entscheidenden Moment aber seinem (angeblichen) Enkel Kairos. Ihn kennen wir aus der Redensart „die Situation  beim Schopfe packen“, da es von Kairos eine bildliche Darstellung gibt, die ihn mit wallendem Stirnhaar zeigt (an dem man ihn ergreifen sollte, wenn er auf einen zukommt), aber mit blankem und wenig grifffestem Hinterhaupt.

Ein wichtiger Aspekt der Prokrastination ist die individuell sehr unterschiedlich motivierte Unfähigkeit der Betroffenen, in einer konkreten Situation eine klare Entscheidung für ein bestimmtes Tun oder Lassen zu treffen. In der Psychologie nennt man die Angst, Entscheidungen zu treffen, Kairophobie. Da wir eigentlich ständig in einem Entscheidungsfluss eingebettet sind, bezeichnet Kairophobie auch allgemein die Angst vor bestimmten Situationen.

Entscheidungen bewirken etwas, genauso wie jedes Tun oder Lassen nicht ohne Folgen bleibt. Die Auswirkungen auf einen selbst und auf die andern sind kaum vorhersehbar. Das kann für Menschen, die sehr fürsorglich und vorsorgend handeln wollen, ein großes Problem werden. Sie müssen akzeptieren lernen, dass man es nie jeder Situation und jedem Menschen Recht machen kann, dass Fehler Teil unseres Daseins sind, und dass Perfektion zwar ein anzustrebendes Ideal, aber kein wirklich erreichbares Ziel ist. Ob man in die Lage kommt, mit derartigen „Schwächen“ zu leben, sie an sich und auch an den anderen zu akzeptieren und dadurch menschlicher und auch entspannter zu werden, ist ein ganz persönlicher Entwicklungsprozess, der letztlich etwas mit „Individuation“ und „Erwachsenwerden“ zu tun hat.