Kairos, immer der richtige Moment?

Wer im Rahmen eines Projekts mit einer Deadline zu tun hat, wird diese nicht selten als eine Art Damoklesschwert, als eine näher rückende Bedrohung erleben: Bis zu einem festgesetzten Datum muss etwas Wichtiges, Perfektes, Vorzeigbares geschaffen sein, von dem sehr oft noch gar nicht klar ist, wie es tatsächlich auszusehen hat. Ein zündender Funke wäre hilfreich, eine Inspiration, die den Arbeitsprozess in Gang setzen könnte. Wie aber kreuzt diese Erleuchtung den Arbeitsprozess?

Genau dieser Moment, an dem der Groschen fällt, einen die Muse küsst, ist der Moment des Kairos. Wie aber trifft man ihn? Vielleicht durch standhaftes Aufschieben des Arbeitsprozesses, solange bis Kairos gar nicht mehr anders kann als aufzutauchen? Ist er ein Geschenk, oder erfordert er eine Anstrengung? Muss man ihn anstreben, oder fällt er einem zu? Kann man sich auf ihn vorbereiten, oder muss man es gar? Kairos hat seine Haarschopf vorne, und wenn man ihm so begegnet, ist nicht gleich zu erkennen, dass er es ist, den man jetzt packen muss. Rauscht er dann vorbei und zeigt er seine blanke Rückseite, ist es auch schon zu spät.

Wie sollte man einen günstigen Moment erkennen? Gibt es dafür ein Training?

Manche nennen einen Prof-Aufschieber auch „Prokrastinations-Junkee“, weil er sich ständig selbst mit Adrenalinstößen aufpuscht. Für Menschen mit einem Ungleichgewicht im Neurotransmitterhaushalt des Gehirns mag der Kitzel des Aufschiebens gar eine Art unbewusster Selbst-Medikation sein, wie etwa die Zigarette für die Ad(H)S-Betroffenen. Vieles spricht dafür, dass besonders entscheidungsgeladene Situationen zu einer Art Ausnahmezustand im Gehirn des dermaßen Geforderten führen. Hormone und andere Neurotransmitter schaffen in unserem Hirn ein chemisches Milieu, das für den offensichtlich fälligen Notfallplan die besten Bedingungen schaffen soll. Leider ist das Ergebnis dann doch nicht immer die beste aller Lösungnen. Adrenalin und Cortison schränken den Blickwinkel extrem ein und lähmen die Arbeit des Denkhirns zugunsten eines schnelleren reflexhaften Handelns. Die Funktionsfähigkeit des Arbeitsspeichers im Hirn wird unter Stress dramatisch reduziert, die Handlungsfähigkeit ebenfalls.

Der zufällige  Musenkuss ist nur selten eine nachhaltig gute Lösung, Aber ein ungemein wichtiger kreativer Moment.

Am kreativsten wird der Moment, wenn er unterfüttert wird mit einer kritischen Selbsterkenntnis, einem Gespür für sich selbst. Damit der Mensch die wahrhaft richtige Gelegenheit erkennen kann. Denn „Gelegenheiten“ gibt es zuhauf. Bei welcher aber heißt es zuzupacken? Und in Bezug auf das leidige Aufschieben wird schnell die Frage obligatorisch: Warum es dann nicht wirklich jetzt schon tun?

Wer bin ich, und wer könnte ich sein?

Gute Entscheider und Macher trainieren ihr Verhältnis zum Kairos ständig – auch auf die Gefahr hin, dass das gelegentlich auch in die Hose gehen kann. Sie üben, sie trainieren ihr Gespür für den richtigen Moment, den richtigen Ort, eben den Kairos – nicht so sehr für die Karriere oder für das vorgenommene Projekt, sondern um sich selbst zu transformieren, um sich beständig zu anderen, zu besseren zu machen, auch wenn sie oft noch gar nicht wissen, zu welchen.

Diesen Prozess könnte man als Achtsamkeit bezeichnen.