Prokrastination und pathologisches Horten

Man prokrastiniert nicht einfach so,

so, wie man atmet, friert, läuft oder schläft. Man schiebt ETWAS auf, man prokrastiniert ETWAS: Vielleicht ein Vorhaben, ein umschreibbares Projekt, Aufgaben, die wir uns stellen, oder die wir von jemandem aufgetragen bekamen, Pflichten, Pläne, Erledigungen. Sie schienen wichtig, wurden dann aber von etwas Dringlicherem in den Hintergrrund gedrängt. Dann schieben wir das Beginnen oder das Weitermachen auf, oder auch das Fertigstellen, das Zuendebringen. Und schließlich auch das Ab- und engültige Weglegen. So werden fast fertige Bücher nicht dem Verleger übergeben, Gemälde nicht dem Galeristen, und Musikstücke werden zu „Unvollendeten“. Geschenke werden nicht verteilt, Bauruinen altern vor sich hin oxer sitzen ihre Halbwertzeiten ab, das Nicht-Erledigte löst sich nicht auf, es hängt an uns noch eine ganze Weile, und wir an ihm.

Nur der Arbeitsfluss ist längst zum Erliegen gekommen, das Werk wird „endlos“ zur Seite gelegt, oft schon zu den anderen, ebenfalls nicht abgeschlossenen Projekten, den halbfertigen Beständen. Sie können dort Wurzeln schlagen, werden Teil der Einrichtung, des Inventars, der Landschaft, des blockierten Denkens. Sie werden nicht einmal vergessen, aber auch nicht bewusst gewürdigt, allenfalls täglich mit einem kurzen Blick gestreift, um dann noch tiefer zu versinken. In den Dauerbestand. Sie verstopfen unsere Welt, unsere Zukunft. Solcher Müll erzeugt ein Durcheinander, das auf englisch ‚mess‘ heißt und bei uns zu dem Begriff ‚Messie‘ und ‚Messietum‘ geführt hat: Das Chaos ist nicht mehr überschaubar oder beherrschbar.

So ist aus dem Prokrastinieren und Aufschieben eine andere Existenzform geworden,  nämlich ein planloses, masseweises Aufbewahren und „Horten“, das seine letzte Sinnhaftigkeit eingebüßt hat, und stattdessen zwanghaft bzw. pathologisch geworden ist.

Die Übergänge zwischen Prokrastination und pathologischem Horten sind in Sichtweite, sie sind schleichend und fließend. Wer Prokrastination kosequent weiterdenkt, endet beim Horten. Wir müssen das im Auge behalten. Weil jeder, der hortet, dies mit dem selben inneren Rüstzeug tut, mit dem er bereits damals das Prokrastinieren sich einnisten und platzgreifen ließ.