lost in YouTube’s universe

Dass Zucker das Potential hat, uns in vorhersehbarer Weise von Ernährungsvorsätzen abzulenken, ist weitläufig bekannt: Ein so genanntes Belohnungssystem, eine neuronal gesteuerte Struktur unseres Gehirns macht das Umwandeln von Zuckerangebot in unkontrollierten Zuckergenuss möglich und wahrscheinlich. Ähnlich funktioniert das Medienangebot „auf allen verfügbaren Kanälen“. Zwar lässt sich die Wirkung von Medieninhalten nicht so einfach kalkulieren wie die von Zucker, aber die Anbieter haben gelernt, ihre Verbraucher beim Konsum zu beobachten, und immer genauer zu wissen, was diese zu weiter fortgesetztem Genuss verführen kann.

Menschen, die beispielsweise YouTube-Videos konsumieren, hangeln sich dort gern von einem Video zum nächsten weiter, manchmal stundenlang. Dabei unterstützt sie der Empfehlungslogarithmus der Plattform, der immer neue Videos zum Ansehen vorschlägt. Dabei hat er, wie ein ehemalige YouTube-Entwickler berichtet, ein vorrangiges Ziel: Die Zeit zu verlängern, die ein Nutzer damit verbringt, weiter zu schauen. Der Algorithmus optimiert das Angebot im Sinne einer maximalen Nutzungsdauer. Da ein thematisch einseitiges Seh-Angebot nach gewisser Zeit langweilt oder thematisch ausgeschöpft ist, werden immer häufiger auch Vorschläge zu bereits vorher ausspionierten, anderen Interessensgebieten gemacht. Und bei fortschreitender Seh-Dauer und damit verbundener Ermüdung der Aufmerksamkeit werden die Angebote von Mal zu Mal extremer, bis sie schließlich bei Verschwörungstheorien, Horrorfilmen, Ufo-Clips oder sonstigen, besonders emotionalisierenden, „krassen“ Inhalten landen.

Die Wechselwirkung algorithmisch vorangetriebener Aufforderungen zum Weitersehen führt regelmäßig zu den finsteren Abgründen unserer Natur, und zum temporären Verlust unserer Reaktionsfähigkeit und unserer Zeit. Tatsächlich verfallen die „Binge-Tuber“ nach einer gewissen Zeit in eine Art Trance, in der sie nicht mehr die Kraft finden, das süchtige Verhalten abzubrechen, während ein unerschöpflicher Fundus an sich selbst erzeugenden Interessenshäppchen sich ständig neu anbietet.

Der Vergleich mit den Wirkungsmechanismen anderer Süchte stellt natürlich die Frage, ob und was denn überhaupt dem suchtvollen Computer- und Medienverhalten entgegengehalten werden kann.

Die einfachste und heutzutage auch schwierigste Variante ist sicher die Null-Option. Sie allerdings verlangt sehr grundsätzliche Entscheidungen, die kaum jemand für sich zu treffen bereit ist. Wenn aber das Grund Thema des Suchtverhaltens der Kontrollverlust ist, dann heißt das auch beim Mediengebrauch, sich die Kontrolle nicht mehr aus der Hand nehmen zu lassen.

So wie der Kaffeetrinker spätestens nach der 5. Tasse merkt, dass es für diesen Tag reicht, der Alkoholkonsument beim 3. Glas aufhört oder als Autofahrer gar nicht erst damit anfängt, so wie spontaner Sex ohne Schutz oder Fahrradfahren ohne Helm als nicht vernünftig erkannt wird, so sollte auch der Eintritt in die Welt der Medien immer eine bewusst wahrgenommene Reflexionsschranke passieren, an der die konkrete Exit-Strategie innerlich vor Augen geführt und vereinbart wird. Als selbst-verantwortlicher Nutzer einer Welt voller Objekte, die ins je nach Art des Gebrauchs zum Nutzen oder zum Schaden gereichen, kommen wir an derart bewussten Entscheidungen auch in Bezug auf den Konsum von Medieninhalten nicht aus.

Die eigene Erfahrung hat uns wahrscheinlich schon gezeigt, dass uns das scheinbar intuitive, in Wahrheit aber algorithmengesteuerte Herumsurfen nicht zu gleichzeitig zufälligen und wertvollen Informationen geführt hat. Der weiter oben genannte YouTube-Mitarbeiter, der einen virtuellen, durch die Algorithmen gesteuerten Nutzer programmiert hatte, konnte an ihm nachweisen, dass die menschlichen Vorlieben für „spannende“ Beiträge regelmäßig zu Videos über Selbstmordattentäter, Horrorszenarien, extremen politischen Selbstdarstellungen oder Debatten führten. Trump war ein regelmäßiges Ergebnis, weit vor Hilary Clinton. Wenn wir solche Beiträge sehen wollten, sollten wir sie bewusst ansteuern. Wenn nicht, oder wenn wir uns nach dorthin nicht ablenken lassen wollen, sollten wir schon zu Beginn der Sitzung hierzu einen Entschluss fassen, den wir nötigenfalls mit äußeren Hilfsmitteln wie computerinternen oder externen Timern unterstützen können.