Diagnose: Prokrastination, Antriebsschwäche, Depression?

Was sich einigermaßen flapsig als ein „nicht in die Pötte kommen“ beschreiben ließe, zeigt bei näherem Hinschauen doch einig wichtige Unterschiede, so dass die Diagnose und damit die Behandlung(sfähgkeit) jeweils anders ausfallen wird. Vorab aber noch ein Wort zur

Diagnose

Auf den ersten Blick scheint es notwendig, eine Diagnose zu haben: Wie soll man sonst wissen, womit man es zu tun hat, und welche Behandlungswege angezeigt sind!  Letztlich sind Diagnose nichts anderes als in formale Begriffe gefasste, mehr oder weniger gründliche und zutreffende Beobachtungen, die der Behandler aufgrund seiner Fachkenntnisse macht, oft aber auch der Patient/Klient schon mitbringt – von einem Vorbehandler, oder aus eigener Vermutung oder Recherche. Wie zutreffend die jeweilige Diagnose bei ihrer Feststellung auch sein mag, sie dient den Patienten und ihrem Behandler zur Orientierung und ganz besonders auch zur Identifizierung des Krankheits- oder Störungsbildes gegenüber der Krankenkasse, die dies für die Feststellung der Erstattungsfähigkeit benötigt. Dass im Laufe eines Behandlungsprozesses Diagnosen auch verworfen, verändert oder neu gefasst werden bzw. werden müssten, ist ein Aspekt, der die Gewichtigkeit einer Diagnose bereits relativiert.

Ein weiterer Aspekt ist der, dass Diagnosen möglicherweise viel zu früh das Beobachtungsfeld des Behandlers eingrenzen, und beim Betroffenen den Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung hervorruft.

Wenn hier also verschiedene Ursachen einer Tendenz zum Aufschieben gegeneinander gestellt werden, so geht es vor allem darum, die Gefahren einer zu frühen diagnostischen Festlegung aufzuzeigen.

Depression

Bei den typischen leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) oder schweren (F32.2 und F32.3) depressiven Episoden leidet der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zur Konzentration, zur Entscheidung, zur Freude, und zur Entwicklung von Interesse sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, auf veränderte Lebensumstände wird nicht reagiert, es können sich so genannte „somatisch“ Symptomen zeigen: Früherwachen, Morgentief, psychomotorische Hemmung (verlangsamte Kommunikation, Bewegung und Gestik), Agitiertheit (innerliche, repetitive Unruhe), Appetitverlust, Gewichtsverlust, Libidoverlust. Suizidgedanken und -handlungen sind häufig. Eine schwere depressive Episode, wie unter F32.2 beschrieben, bei der aber Halluzinationen, Wahnideen, psychomotorische Hemmung oder ein Stupor so schwer ausgeprägt sind, dass alltägliche soziale Aktivitäten unmöglich sind und Lebensgefahr durch Suizid und mangelhafte Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme bestehen kann.

Unterschiedliche Charakterisierungen der Episoden weisen auf den möglichen Ursprung der Störung:

Somatogenen Depressionen: Hier ist eine andere physische oder psychische Grunderkrankung (Krebs, Schilddrüsenunterfunktion, Herzkrankheiten etc.) verantwortlich dafür, dass der Patient eine Depression entwickelt. Auch die Einnahme von Medikamenten (z. B. einer Malariaprophylaxe) oder Drogenkonsum können eine Depression verursachen.

Endogene Depressionen: Annahme einer genetischen Veranlagung. Ob die Krankheit wirklich ausbricht und der Patient depressive Symptome entwickelt, hängt von seiner Biographie ab und davon, über welche Selbstwert-Ressourcen er verfügt. Ausgelöst wird die Krankheit stets durch eine besondere Konfliktsituation. Später reichen jedoch auch kleinere Anlässe aus, um erneut Krankheitssymptome entstehen zu lassen.

Neurotische Depressionen: Unverarbeitete psychische Ereignisse bzw. Konflikte in der Vergangenheit des Patienten kehren in Form einer mitunter grundlos erscheinenden Depression wieder. Umwelteinflüsse und bestimmte Persönlichkeitsmerkmale spielen überdies eine Rolle bei der Ausbildung der Symptome.

Psychoreaktive Störung: Die Depression wird durch ein aktuelles Ereignis (Unfall, Trennung, Tod einer geliebten Person, Arbeitslosigkeit etc.) ausgelöst. Auf Belastungssituationen mit Niedergeschlagenheit und Trauer zu reagieren, ist zunächst eine normale Reaktion. Zur Krankheit wird sie erst, wenn Probleme des Selbstwertes und Suizidgefahr hinzukommen oder die Trauer auch über lange Zeit hinweg nicht bewältigt werden kann.

Weitere Formen: Bekannt sind Depressionen, die aufgrund des Lichtmangels im Herbst oder Frühjahr ausgebildet werden. Auch die Wochenbettdepression nach der Geburt eines Kindes kann hierzu gezählt werden.

Ob die Depression nach den Symptomen bzw. gemäß der subjektiven Einschätzung als leicht, mittel oder starke zu bewerten ist, muss sich vor allem an den Kriterien der Selbstgefährdung und der Gefährdung anderer orientieren. Mit wachsender Leichtigkeit des Störungsverlaufs ergeben sich umso größere Möglichkeiten, auf Einzelaspekte der Störung gezielt einzuwirken – so zum Beispiel auf den Aspekt der Antriebshemmung, der direkt auf die Symptomatiken der Prokrastination hinführt.

Antriebslosigkeit

Antriebslosigkeit wird häufig im Rahmen einer depressiven Episode erlebt, ist aber auch als ein davon unabhängiges Störungsbild denkbar. Auslöser können z. B. sein: isolierte seelische Belastungssituationen, ein belastendes familiäres oder berufliches Aktionsumfeld, allgemeine oder konkret begründbare Perspektivlosigkeit, aber auch Energieeinbußen durch Fehl- oder Mangelernährung, bekannte oder noch unerkannte Erkrankungen, eventuell im Vorstadium, die mit Ermüdung einhergehen, wie z.B. Hypotonie oder Schilddrüsenunterfunktion, privater Stress oder beruflicher Burnout, aber auch Gründe, die direkt mit einer aversiven Haltung gegenüber einer zu bewältigenden Situation zu tun haben.

Prokrastination

Das prokrastinierende Verhalten ist in gewisser Weise ebenfalls an Situationen gebunden, dies aber noch viel deutlicher in einem konkret vorliegenden Kontext. Vor diesem Hintergrund wird in unserer Prokrastinationsbehandlung die triggernde Situation sehr genau und mit einem 360°-Blick auf eventuelle Empfindlichkeiten abgesucht, die mit einer oft auch unbewussten Handlungs- oder Entscheidungsverweigerung auf eventuelle Absichten reagieren. Da wir davon ausgehen, dass sich hinter einem Aufschiebereflex in aller Regel ein Schutzmechanismus verbirgt, ist dieser Trigger-Check für die Prokrastination von zentraler Bedeutung. Unter Zuhilfenahme der möglichen und klar abzugrenzenden Einflusskomponenten haben wir mit dem Akronym „LEZGO!“ die systematisch Durchforstung der wichtigsten Einflussgrößen verständlich und erinnerbar gemacht. So steht das „L“ für das Thema „Lernen“, stellvertretend für alles was die anstehende Erledigung oder Entscheidung an Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Kenntnissen erfordert, deren Grad der ausreichenden Verfügbarkeit u.U. zu einem ablehnenden bzw. prokrastinierenden Verhalten führt.

„E“ will die Selbstanalyse auf das emotionale Hintergrundrauschen aufmerksam machen, das sich aus den vielleicht früher in ähnlichem Zusammenhang gemachten Erfahrungen bzw. aus den jetzt befürchteten Erwartungen nährt.

„Z“ will anregen, die mit der aktuellen Erledigung oder Entscheidung verbundene Zielsetzung sicherzustellen: Sind die Ziele kompatibel mit den ureigenen Wünschen oder Visionen, sind sie realisierbar, auch in Bezug auf inhaltliche oder zeitliche Aspekte. Hieraus ergibt sich der Grad die Art der nötigen Motivierung, deren Vorhandensein sich in dieser Befragung erweisen muss.

„G“ richtet die Aufmerksamkeit auf das Thema Gesundheit, und zwar der körperlichen wie der mentalen. Es wird sicherlich nicht darauf ankommen, erst einen idealen Gesundheitszustand abzuwarten, bis man sich der Erledigung oder Entscheidung stellt. Jedoch sollte klar sein, dass das körperliche und mentale Wohlbefinden den Umfang und die Qualität der Arbeit begleitet und mitbestimmt. Entsprechende Fürsorge einerseits, aber auch eine angemessene Duldsamkeit können dafür sorgen, dass die Kluft zwischen Erwartung und Realisierbarkeit nicht unüberbrückbar wird.

„O“ steht stellvertretend für das Prinzip Ordnung und Organisation, die Fähigkeit und Bereitschaft, Strukturen zu schaffen, die den Umgang mit den Faktoren Zeit, Raum, Mit-Menschen, Ressourcen und Planung erleichtern.

„!“ lässt Raum für die ganz besondere Komponente, die sich aus den speziellen Eigenheiten des konkreten Projektes und seinen Beteiligten ergeben könnten.

Auch wenn der Durchgang durch den LEZGO!-Check an einer Vielzahl an praktischen, ebenso wie psychischen Themen anrührt, die dem freien und engagierten Handeln im Wege stehen können, wenn also sowohl durch handlungsorientiertes Coaching wie durch psychotherapeutische Begleitung eine Verhaltensverbesserung angestrebt und möglich ist, bleibt die Prokrastinationsbehandlung i.a.R. näher an der konkreten Alltagsthematik, an der sich der Rat- und Hilfesuchende aufreibt. Die Frage, ob ein depressionsgeladenes Erleben zur Prokrastination führt, oder ob aus den negativen Folgen einer Prokrastination erst eine Depression erwächst, muss an dieser Stelle nicht verallgemeinernd beantwortet werden. Allerdings spricht die deutlich erkennbar in Richtung einer positiven Zukunft ausgerichteten Anti-Prokrastinations-Behandlung für die Betroffenen deutlich attraktiver als die Aussicht, vor allem erst einmal mit den Defiziten der persönlichen Vergangenheit konfrontiert zu werden.