Inhaltliche Deutung des Phänomens

Über das Aufschieben gibt es eine Vielzahl von Meinungen.

         1. Die verbreitetste unter ihnen ist die Vorverurteilung: Prokrastinierende seien faul, bequem und charakterschwach, schlecht organisiert, falsch motiviert. Sie sind für eine positive Veränderung leider völlig unbrauchbar. Weitere Arbeitshypothesen sind:

·         2. Prokrastination ist ein gelerntes Verhalten im Sinne der klassischen (Pawlowschen) Konditionierung und somit jederzeit „verlernbar“.

·         3. Prokrastinationsverhalten ist in einer genetischen Veranlagung begründet und somit nicht veränderbar.

·         4. Prokrastination ist gehirntechnisch der Ausdruck einer Dysbalance zwischen kortikalen und subkortikalen neuronalen Systemen.

·         5.  Den Aufschiebenden fehlt eine wichtige praktische Fähigkeit/Fertigkeit bzw. persönliche Eigenschaft – oder sie haben zu viel davon.

·         6. Prokrastinierende sind in einem Konflikt/Widerstands-Loop gefangen.

·         7. Aufschiebende beschäftigen sich heute lediglich mit den Folge-Symptomen einer Prokrastinations-Problematik von gestern.

·         8. Prokrastinierende durchleben einen psychologischen Externalisierungs-Prozess ihrer internen Konflikte.

·         9. Prokrastinations-Überwindung erfolgt durch die Auflösung einer erstarrten Entweder-oder-Sicht zugunsten eines prozessualen Sowohl-als auch-Verhaltens.

·         10. Prokrastination ist Ausdruck einer angstneurotischen Störung.

·         11. Prokrastinierende leiden unter depressiv-masochistischen Zuständen, die mit der Reinszenierung negativer biografischer Konstellationen in Verbindung stehen.

·         12. Prokrastination ist ein typisch abhängiges Verhalten (Aufbau und Lösung einer intrapsychischen Spannung, zunehmende Häufigkeit und Gewöhnung).

·         13. Nachhaltige Prokrastinationsüberwindung wird erschwert durch die Hartnäckigkeit der Symptome und rezidive Tendenzen (kommt immer wieder).

·         14. Prokrastination kann nur deswegen geschehen, wenn/weil es eine Umgebung gibt, die dieses Verhalten ermöglicht bzw. duldet (z.B. durch das Ausbleiben sofortiger negativer Folgen).

·         15. Die äußerliche Passivität in der Prokrastination ist als Defizit/Dysfunktionalität falsch verstanden. Hinter ihr verbirgt sich vielmehr ein aktives, unbemerkt mobilisiertes Handeln, das es zu würdigen gilt („Funktion der Dysfunktionalität“).

·         16. Prokrastination ist Teil einer psychischen Verteidigungslinie, ein taktisch-strategisches Instrument, eine ressourcen-ökonomische Notwendigkeit.

·         17. Das Risiko zu prokrastinieren ist allen Menschen gegeben: Menschen bewegen sich stets innerhalb einer Entscheidungs-Bipolarität, die unter bestimmten Bedingungen zu einer rigiden Dilemmatik mutieren kann.

·         18. Prokrastination soll als neurotischer (Nicht-)Verarbeitungsmodus innerhalb einer unbewussten hilfesuchenden Selbstinszenierung verstanden werden.

·         19. Hinter dem Wunsch nach Nicht-Erledigung steht eine nicht oder nicht überzeugend abgeschlossene Diskussion der persönlichen Werte.

·         20.“Aufschieben“ ist gleichbedeutend mit „Zeit-Kreditaufnahme„. Die Zinsen sind exorbitant: Sie bestehen aus Lebenszeit. Und die Eintreiber gnadenlos.

Diese und alle sonstigen Erklärungsmodelle sind keineswegs einzuordnen als richtig oder falsch. Sie sind lediglich Teil des individuellen Prokrastinations-Modells. Und sie sind immer eine hervorragende Ausgangsbasis für eine erfolgreiche Prokrastinations-Behandlung.