Horten und Prokrastinieren im ICD-11

Im Rahmen unserer Prolrastinations-Praxis machen wir die Erfahrung, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen einem prokrastinierenden Zurückhalten von Erledigungen bzw. einem Festhalten an längst beendeten „Projekten“ und dem pathologischen Horten von materiellen Gütern gibt. Pathologische Prokrastinieren verhält sich in Bezug auf Entstehung, Symptomatik, Prävalenz und Therapie durchaus vergleichbar zum pathologischen Horten.

Wir zitieren daher, was die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. um Thema pathologisches Horten schreibt

Quelle: Pathologisches Horten – Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. (zwaenge.de)

(Kommentar: d.A.)

„Pathologisches Horten

Definition

Menschen, die an pathologischem Horten leiden, haben den unwiderstehlichen Drang, große Mengen an Gegenständen zu sammeln und sich anschließend nicht mehr von diesen zu trennen. Häufig werden Dinge von geringem objektivem Wert oder praktischen Nutzen wie alte Zeitschriften, abgetragene Kleidungsstücke, defekte Elektrogeräte und Dekoartikel oder Verpackungen gehortet. Dies kann dazu führen, dass Räume völlig unzugänglich werden oder nur noch über kleine Durchgänge passierbar sind. Die Erkrankung bringt starke Einschränkungen der Lebensqualität mit sich und belastet in der Regel auch andere Haushaltsmitglieder.

Pathologisches Horten wird im DSM-5 als Zwangsspektrumsstörung, bzw. als zwangsnahe Erkrankung bezeichnet. Im ICD-11 wird pathologisches Horten als zwangsverwandte Störung betrachtet (6B24), während es im aktuellen ICD-10 noch den Zwangsstörungen zugerechnet wird.“

Es muss darauf hingewiesen, dass die weitere Zuordnung zum Formenkreis der Zwangserkrankungen der durchaus verstandenen Trennung von pathologischem Horten und den Symptomen des Messietums (Desorganisation mit folgender Vermüllung und Verwahrlosung) und dem Diogenes-Syndrom (Vernachlässigung, Verwahrlosung) nicht gerecht wird. Auch unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen (Diagnose und Therapie) sollte im pathologischen Horten statt einer zwangsverwandten Störung eine Anpassungsstörung gesehen werden.

„Diagnose

Unter pathologischem Horten versteht man nach ICD-11 die Anhäufung von Besitztümern durch übermäßigen Erwerb oder durch Schwierigkeiten, sich von Gegenständen zu trennen – unabhängig von deren tatsächlichem Wert.

Von übermäßigem Erwerb spricht man, wenn Menschen wiederholt Impulse und Verhaltensweisen zeigen, die in Zusammenhang mit dem Kaufen oder Sammeln von Dingen stehen. Die Schwierigkeiten, sich von den Besitztümern zu trennen, äußern sich darin, dass Menschen es als notwendig empfinden, die Gegenstände zu behalten und die Entsorgung der Gegenstände als belastend erleben.

Entscheidend dabei ist, dass die Anhäufung von Besitztümern die Nutzung und Sicherheit der eigenen Lebens- und Wohnräume beeinträchtigt.

Außerdem führen die Symptome zu einer erheblichen Belastung oder Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

Im ICD-11 wird außerdem unterschieden zwischen pathologischem Horten mit guter Einsicht (6B24.0) und pathologischem Horten mit geringer Einsicht (6B24.1). Bei guter Einsicht sind Betroffene in der Lage zu erkennen, dass die krankheitsbezogenen Überzeugungen möglicherweise überzogen sind. Sie wissen beispielsweise, dass sie nicht alle alten Zeitschriften aufheben müssen, damit sie keine Nachteile durch Informationsdefizite haben. Auch wenn sie bei Stress oder unter Angst möglicherweise ungünstige Ansichten zum Aufbewahren von Dingen entwickeln, können sie in ruhigeren Momenten wieder Abstand dazu finden. Bei geringer Einsicht sind Betroffene die meiste Zeit oder durchgehend überzeugt davon, dass ihre krankheitsbezogenen Überzeugungen wahr sind und können keine alternativen Erklärungen akzeptieren. Hierbei lässt sich auch keine Schwankung der Einsicht in Abhängigkeit von der aktuellen Befindlichkeit erkennen.

Verwandte Störungen“

Pathologisches Horten ist als verwand anzusehen mit dem pathologischen Horten von immateriellen Werten, etwa von Plänen, Vorhaben, Aufgaben und Erledigungen, die gesammelt, aber nicht bis zum Ende erledigt und dann abgelegt, „entsorgt“ werden. Dieses pathologische Horten und Nicht-Loslassen von immateriellem Eigentum ist auch als eine besondere Form der Prokrastination (Aufschiebeverhalten) zu verstehen: Der letzte Schritt einer Erledigung wird immer weiter vor sich hergeschoben, da die Freigabe des alten Erledigungsprojekts als bedrohlich gesehen wird, und die weitere Verfügungsgewalt als Sicherheit verstanden wird.

„Pathologisches Horten ist mit der Zwangserkrankung im engeren Sinne verwandt, weil Betroffene ähnlich wie bei klassischen Zwangssymptomen immer wieder Dinge tun (exzessive Einkäufe, Ansammeln von Dingen), die sie mit Abstand betrachtet nicht sinnvoll finden, ohne ihr Verhalten aufgeben zu können. Anders als bei Zwangsritualen sind diese Verhaltensweisen allerdings mit Interesse und positiven Empfindungen verknüpft.

Umgangssprachlich wird pathologisches Horten oft auch mit dem „Messie-Syndrom“ (von „mess“, engl: Chaos, Unordnung) gleichgesetzt. Unter dem Messie-Syndrom versteht man jedoch genau genommen allgemeine Schwierigkeiten der Selbstorganisation, die sich in der Regel nicht nur auf die häusliche Ordnung beziehen: Auch das Einhalten von Terminen, die soziale Einbindung sowie das Umsetzen von Handlungsplänen im Allgemeinen sind hierbei beeinträchtigt. Menschen mit pathologischem Horten können hingegen nicht selten in vielen Lebensbereichen (z.B. Arbeit, Freizeitgestaltung, Sozialleben) auf hohem Funktionsniveau leben und erleben die Schwierigkeiten vorrangig in den eigenen vier Wänden. Dafür neigen Messies wiederum seltener zu exzessivem Kaufverhalten als Menschen mit pathologischem Horten. Das Messie-Syndrom kann ganz unterschiedliche Ursachen haben.

Außerdem findet man bei einigen psychiatrischen Erkrankungen wie etwa Psychosen oder schweren affektiven Erkrankungen manchmal das sogenannte Diogenes-Syndrom („Vermüllungssyndrom“). Hierbei geht es jedoch eher um eine allgemeine Selbstvernachlässigung, die sich neben dem Wohnumfeld auch auf das körperliche Erscheinungsbild auswirkt, und die in der Regel mit starkem sozialem Rückzug und geringer Krankheitseinsicht verbunden ist.

Prävalenz– Alter–Geschlechterverteilung

Etwa jeder 22. Mensch in Deutschland ist von dem Störungsbild betroffen. Insgesamt ist pathologisches Horten unter älteren Menschen mit 6,2% häufiger zu finden als bei jüngeren Menschen (2,3%).  Darüber hinaus leiden etwa doppelt so viele Männer wie Frauen unter der Erkrankung.

Die ersten Symptome pathologischen Hortens treten meistens schon im Alter von 12-13 Jahren auf. Ab Mitte dreißig erleben die meisten Betroffenen eine deutliche Beeinträchtigung im Alltag, die sich mit zunehmendem Alter dann weiter verstärkt.  Bevölkerungsbasierte Daten haben sogar gezeigt, dass die Prävalenz pathologischen Hortens mit wachsendem Alter alle fünf Jahre um etwa 20% zunimmt.

Etwa die Hälfte der Patientinnen leidet gleichzeitig unter einer depressiven Erkrankung, jeder dritte Betroffene ist von einer sozialen Phobie oder generalisierten Angststörung betroffen. Eine begleitende Zwangserkrankung findet man bei etwa jedem fünften Betroffenen.

Ursachen

Wie bei anderen psychischen Erkrankungen auch, scheint eine Kombination mehrerer Faktoren für die Entstehung von pathologischem Horten verantwortlich zu sein. Nach dem kognitiv-behavioralen Modell von Steketee und Frost gehören dazu ganz verschiedene Bausteine:

Oft sind der Erkrankung belastende Lebenserfahrungen wie beispielsweise der frühe Verlust wichtiger Bezugspersonen, ein Mangel an emotionaler Zuwendung oder zwischenmenschliche Konflikte vorausgegangen. Daraus können ungünstige Grundüberzeugungen entstehen, etwa die Vorstellung unzulänglich, unliebenswürdig oder verletzlich zu sein. Auch extreme Einstellungen wichtiger Bezugspersonen in der Kindheit (z.B. „in unserem Haus wird nichts weggeworfen“) können eine Rolle spielen. Nicht selten haben Betroffene schon früh die Erfahrung gemacht, dass es ihnen Geborgenheit, Schutz oder ein Gefühl der Identität verleiht, wenn sie sich mit vielen persönlichen Dingen umgeben.

Daneben sind oft Schwierigkeiten der Informationsverarbeitung von Bedeutung. So wurde in verschiedenen Studien nachgewiesen, dass Menschen mit pathologischem Horten häufiger leicht eingeschränkte Problemlösefertigkeiten haben, sich mit der Kategorisierung und Ordnung von Dingen schwerer tun, die Planung und Umsetzung von Handlungen weniger flüssig gestalten können oder leichte Schwierigkeiten im Bereich visuell-räumlichen Lernens und des Arbeitsgedächtnisses haben.

Die Symptomatik wird dann oft von einer oder mehreren ungünstigen Ansichten über Gegenstände aufrechterhalten:

  1. Die Gegenstände erfüllen einen vermeintlich wichtigen Zweck:
    Betroffene können beispielsweise den Eindruck haben, ohne ihre Gegenstände die wichtigsten Erinnerungen an kostbare Momente in ihrem Leben für immer zu verlieren.
  2. Die Gegenstände haben einen hohen emotionalen Wert:
    Die Gegenstände können beispielsweise wie ein erweiterter Teil der eigenen Person oder geliebter Menschen empfunden werden, so dass eine enge Bindung an sie entsteht. Auch wenn sie bald nach ihrem Erwerb nur wenig Aufmerksamkeit bekommen und häufig zwischen anderen Dingen verstauben, wird ihr Verlust als sehr schmerzlich erlebt.
  3. Die Gegenstände haben einen besonderen ästhetischen Wert:
    Betroffene empfinden viele Gegenstände etwa aufgrund ihrer Farbgebung oder Oberflächenbeschaffenheit als einmalig und kostbar, so dass es sich für sie falsch anfühlt, sie wegzuwerfen

Aufgrund dieser Bedeutungen empfinden Betroffene beim Wegwerfen oder Verlieren von Gegenständen intensive negative Emotionen wie Traurigkeit, Ärger, Angst oder Schuld, während das Erwerben von Gegenständen mit starken positiven Emotionen wie Freude, Stolz und Geborgenheit verknüpft ist. Dadurch wird das pathologische Horten weiter verstärkt.

Da Verwandte ersten Grades deutlich häufiger unter pathologischem Horten leiden als Menschen, die keine Betroffenen im familiären Umfeld haben, geht man außerdem davon aus, dass eine Erblichkeit von etwa 50% besteht.

Therapie

Am besten überprüft ist der kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansatz von Steketee und Frost, der im Folgenden in Grundzügen vorgestellt wird. Die Psychotherapie orientiert sich dabei an den individuellen Faktoren, welche zum pathologischen Horten beitragen.

Für manche Patienten kann es wichtig sein, die emotionale Bindung an ihre Gegenstände zu verändern, indem sie die lebensgeschichtlichen Ursachen der intensiven Beziehung zu den Besitztümern bearbeiten und systematisch üben, Kaufverlockungen zu widerstehen. Dabei können sie zunehmend die Erfahrung machen, dass der Drang zum Erwerben der Dinge auch wieder abnimmt. Wenn die Gegenstände beispielsweise als Ersatz für menschliche Kontakte dienten, kann ein Fokus der Therapie auch darauf liegen, wieder befriedigende menschliche Beziehungen zu entwickeln. Interessanterweise werden die als wertvoll empfundenen Gegenstände von Betroffenen oftmals auch gar nicht beachtet und gepflegt, sondern gehen rasch inmitten anderer Gegenstände unter. Hier kann es wertvoll sein, gemeinsam zu überlegen, wie einzelne Besitztümer durch Entsorgung anderer Objekte tatsächlich zu angemessener Geltung gelangen können.

Außerdem ist es oft wichtig, ungünstige Überzeugungen in Bezug auf das Horten zu modifizieren. So kann zum Beispiel die Annahme „ich verrate meinen verstorbenen Vater, wenn ich Dinge von ihm verschenke“ gemeinsam näher betrachtet und durch eine realistischere Bewertung ersetzt werden. Auch konkrete Regeln im Umgang mit Gegenständen lohnt es sich zu hinterfragen. Wenn etwa ein Betroffener den Glaubenssatz verfolgt „Plastikverpackungen muss ich grundsätzlich aufbewahren – ich könnte sie noch brauchen“, kann es sinnvoll sein, Nutzen und Nachteile dieser Einstellung zu beleuchten, ihre Ursache zu verstehen und gemeinsam neue Regeln zu formulieren (etwa: „ich hebe nur noch so viele Plastikverpackungen auf, wie in eine große Küchenschublade passen“).

In diesem Zusammenhang kann es auch hilfreich sein, Probleme der Informationsverarbeitung zu beheben….

Medikamentöse Behandlung

Medikamentöse Behandlung ist bei pathologischem Horten nur sinnvoll, wenn aktuell keine Psychotherapie verfügbar ist, die Möglichkeiten einer Psychotherapie ausgeschöpft sind oder zusätzlich eine schwere depressive Symptomatik vorliegt. Hier sind Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) die Medikamente erster Wahl.

Wichtige Adressen

Bundesweites Messie-Hilfe-Telefon (H-Team e.V.): 089-550 64 890

Selbsthilfegruppen für Angehörige von Menschen mit Messie-Syndrom:
http://www.angehoerige-messies.de/selbsthilfegruppen/

Adressen von Selbsthilfekontaktstellen für Betroffene:
www.nakos.de

Für die Schweiz:
Verein, der sich gegen das Messie-Syndrom einsetzt: https://www.lessmess.ch

Für Österreich sind noch keine überregionalen Seiten bekannt.

Hilfe

Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.
Beratungstelefon: Montag bis Freitag von 10:00 bis 12:00 Uhr, Rufnummer: 040-689 13 700

Literatur

Anne Katrin Külz, Ulrich Voderholzer
Pathologisches Horten
‎Hogrefe Verlag, Göttingen 2018 / ISBN: ‎ 978-3801727857 / 95 Seiten / Preis: 19,95 Euro

Autorin: Dr. Anne Katrin Külz, Freiburg