aufschiebesüchtig

Manchmal ist es ein gewisser Stolz, der aufkommt, wenn man sich bewusst wird, dass man nicht nur aus eskapistischen (realitätsfliehenden) Gründen aufschiebt, sondern eines inneren Genusses wegen: Das Überschreiten von Grenzen und Geboten, das Einführen eines eigenen Rhythmus in den vorprogrammierten Ablauf geben den Anschein einer Selbstwirksamkeit  – wie das Anzünden einer Zigarette oder der selbstgenehmigte Drink. Die Nicht-Konfrontation mit dem Unangenehmen kann eine süchtig machende und leicht zu wiederholende Erfahrung sein. Es führen also zu einem hartnäckigen Aufschieben noch ganz andere Gründe als nur die immer wieder beschworene Angst vor dem Problemthema – und du wirst die meisten davon bereit kennen:

1.       die Faszination, wie leicht man sich das Leben leicht machen kann – eine leicht verfügbare „Handlungs“-Option ohne zu handeln;

2.       die Erfahrung von überraschend auftauchender Schuld, wo man doch ein ganz tadelloses Leben führen wollte;

3.       die reizvolle Hingabe in die erste Kapitulation, wenn man spürt, dass der „Wille“ sich einer stärkeren Macht unterwerfen muss;

4.       die Idealisierung des Aufschiebens als „Eigenmächtigkeit“ und erfolgreiche, kunstvolle Jonglage von Situationen und Terminen;

5.       die Scham, weil das perfekte Bild, das man von sich gezeichnet hat, vor sich selber, vor den Kollegen und vor der Familie nicht mehr aufrecht zu halten ist;

6.       die Selbstaufgabe, bei der man sich weiter und weiter in den Aufschiebestrudel wie in ein vermeintliches Schicksal fallen lässt;

7.       das Bedürfnis der Sicherheit, die man dort sucht, wo nichts zu erwarten ist: in der Zukunft;

8.       die Heimlichkeit, bei der, wie in einer versteckten Beziehung, ein Offenlegen der verbotenen Sünde genauso ersehnt wie unmöglich ist;

9.       der Mangel, der schon bald als Folge der existentiellen Selbstzerstörung zu neuen und glorifizierten Daseinsformen führt, und der einer der treuesten Begleiter der Prokrastination ist;

10.   das Ein-Geständnis, vor sich und vor den anderen, dass das Spiel aus ist („Les jeux sont fait“, bedeutet keineswegs, dass damit alles gelaufen ist: die Kugel rollt unbeirrbar weiter bis zum chaotischen, sprunghaften Ende)

11.   die Demut, aus Scham geboren und im Sich-Aufbäumen schnell wieder verloren, wo doch eigentlich und zum ersten Mal so etwas wie Verantwortung aufkommen sollte;

12.   die Rettung, denn es gibt immer jemanden, der Hilfe anbietet und Rettung verspricht;

13.   der Rückfall, weil diese Hilfe nicht hilft, da sie eben nur „Hilfe“ ist, und nicht Veränderung zum Ziel hat;

Wenn dann das versprochene Gefühl von Glückseligkeit zum x-ten Male gebrochen wurde, dann gibt es auch noch

14.   die Heilung, die nur aus der Selbsterkenntnis kommen kann, und die deswegen nie dauerhaft ist, und die in immer neue Stadien des mehr oder weniger kontrollierten Aufschiebens mündet.