Die Stärken der Prokrastination

Wer aus Gründen der Prokrastination Unterstützung sucht, erlebt sein Aufschieben meist als „Störung“ oder als Defizit in seiner Fähigkeit, sich zu organisieren oder mit unguten Erwartungen fertig zu werden. Eine solche Haltung ist für jede(n) Betroffene(n) zwar gut begründbar, aber nicht immer die einzig Mögliche! Denn zum einen wissen wir, dass Aufschieben sich (manchmal auch unerwarteterweise) als eine durchaus hilfreiche „Taktik“ erweiys (sogar augeschobene Flugreisen haben schon so manches Leben gerettet!). Zum andern – und das trifft weit häufiger zu als man meint –  ist die Tendenz zum Aufschieben in vielen Menschen von Beginn an vorhanden als Teil ihrer Persönlichkeit. Wer bei sich diesen Charakterzug kennt, macht allerdings die Erfahrung, dass die Rückmeldungen der Menschen um ihn herum wenig positiv ausfallen, sodass er seine „Aufschieberitis“ nicht einfach als eine Eigenschaft, sondern persönliche Schwäche versteht. Und die von keinem Zögern beeindruckten „Macher“ zeigen nur allzu deutlich, dass sie für den Zauderer und Erledigungsverschieber nur Spott, allenfalls Mitleid kennen.

Wenn in meiner Praxis der Wunsch nach Veränderung und Überwindung eines Aufschiebeverhaltens nachgefragt wird, geht es dem Klienten meistens weniger um das entspannte „mañana!“ , das er nicht mehr praktizieren will, sondern viel mehr um die negativen Konsequenzen, die er von seiner genervten Umwelt zu spüren bekommt. Unsere Gesellschaft  hat nicht viel übrig (weder Geld noch Sympathie) für solche, die kein ordentliches Zeitmanagement, keine Zielstrebigkeit, keine erfolgreiche Konsequenz in ihrem Handeln und Entscheiden an den Tag legen. Während motiviertes Durchhandeln grundsätzlich befürwortet wird, muss Zögern und Aufschieben seine Berechtigung erst anhand eines ganz besonderen Erfolgs für jeden Einzelfall nachweisen, um sich aus dem Ruch des Negativen, der Faulheit und der Inkompetenz lösen zu können.

Zögern. Bedenklichkeit, Abwarten und Innehalten sind in unserer Gesellschaft keine Tugenden, sondern Schwächen. Dass sie auch hilfreiche Charakterzüge, ja sogar persönliche Stärken sein können, ist in unserem Lebens- und Arbeitsverständnis nicht vorgesehen

Welche Aktivitätsprinzipien tatsächlich in einer Gesellschaft gutgeheißen werden, hängt allerdings von Rahmenbedingungen ab, in die das Individuum eher zufällig hineingeboren wird: vom Jahrhundert, dem dort vorherrschenden Wirtschaftssystem und kulturellen Kontext, von den geografischen Breiten, von seinem sozialen Status, ja, sogar vom momentanen körperlichen und mentalen Befinden ab. Ein Aufschieben zu behandeln würde unter dem Einfluss einer gesellschaftlichen „mañana“-Kultur, eines Wüstensturms, einer fiebrigen Grippe oder eines drohenden Meteoriteneinschlags einen anderen Sinn ergeben als angesichts eines Abgabetermins für eine fälligen Steuererklärung.

Aufschieben ist ein Abwehr- oder Schutzverhalten, das als Geburtsrecht allen Menschen zur Verfügung steht: als natürliche Reaktion auf Angst, auf jedwede Übergrifflichkeit, auf Ablehnung, auf ungute Gefühlslagen. Insofern ist die Anwendung der Fähigkeit zum Prokrastinieren nicht als eine Störung oder gar Krankheit, zu sehen sondern vielmehr als eine grundsätzlich gleichwertige (Nicht-)Handlungsoption, deren Nützlichkeit von Fall zu Fall in Erwägung zu ziehen, zu verstehen und als Bewältigungsleistung anzuerkennen ist.

Für die Ausrichtung einer Coaching- oder therapeutischen Arbeit bezüglich eines  berichteten Aufschiebeverhaltens bedeutet das, dass wir nicht nur dem Aufschieben als solchem unsere diagnostische Aufmerksamkeit widmen sollen, sondern dass wir auch die Ursachen und Beweggründe wahrnehmen und anerkennen müssen, deretwegen ausgerechnet diese besondere Nicht-Handlungsoption  gewählt wurde.

pro-cras-Coaching und Therapie bemüht sich also nicht darum, Prokrastination insgesamt aus der Welt oder aus dem Leben des Klienten zu schaffen. Das Anliegen ist vielmehr, den jeweiligen Wunsch nach Nicht-Handeln zu hinterfragen, um dem nötigen Handeln eine stärkere und bewusstere Basis zu verleihen.