Prokrastination ist Diebstahl von etwas sehr Begehrtem

Zukunft

Nicht durchgeführte Erledigungen nicht einfach und kompromisslos zu streichen, sondern sie „pending“ zu halten und Ihnen einen Platz in der Zukunft zuzuweisen, heißt, sich ein Stück seiner Zukunft zu klauen, bzw. der Zukunft anderer Leute.

Natürlich will das so keiner. Das einzige, was man will, ist, dass die lästigen und unangenehmen Dinge erledigt sein sollen, am liebsten ohne eigenes Zutun, ohne schmutzige Hände und ohne belastende Gefühle. Und wenn das heute mit uns nicht zu machen ist, ergibt es sich doch hoffentlich, irgendwie und ganz bestimmt in einer baldigen Zukunft. Schieben wir es also zunächst einmal dort hinein.

Wer aber sagt, dass die Zukunft, die wir auf diese Weise mit leichtsinnigen Neuterminierungen vollpacken, wirklich uns gehört, dass wir ein Recht haben, nach Belieben über sie zu verfügen? Wie können wir uns eine solche Übergriffigkeit erlauben, sehen wir doch, wie sehr wir heute unter den Lasten einer Vergangenheit ächzen, deren damalige Zukunft uns gerade jetzt zur präsenten Gegenwart geworden ist? In der Plastiktüten aus 40 Jahren uns den Appetit verderben, Atommüll uns bereits wie Blei an den Füßen klebt und unsere Aufmerksamkeit für noch einige hunderttausende Jahre abfordert.

Wer gibt uns, jedem Einzelnen von uns, eigentlich die Berechtigung, in einem Akt der Besitzergreifung, aus Nachgiebigkeit, Bequemlichkeit, momentanem Unwohlsein, Ängstlichkeit oder diskutierbarer Empfindlichkeit immer wieder Vorgriff zu nehmen auf etwas, das uns nicht gehört? Das Recht, die Zukunft, unsere eigene und die Aller, zu beladen mit exakt dem „Mist“, vor dem wir uns heute einfach nur drücken wollen?

Als Kind fand ich es ganz normal, sogar ein bisschen spannend, wenn der Müll, der tagsüber im Ferienhaus am Rhein so anfiel, bei Einbruch der Dunkelheit in großem Schwung und doch klammheimlich im Fluss versenkt wurde. Der würde es richten, ins Meer mitnehmen, und das ist unendlich groß. Für die drei Wochen war es einfach lästig, sich im eine Mülltonne zu kümmern.

Mit einiger Wahrscheinlichkeit findet man diesen Müll heute in Teilen auf einer entlegenen norwegischen Insel, wo er unter Einwirkung der Sonne und Wellen sich längst unlösbar mit der Natur verzahnt und verfilzt hat. Und wo er so lange vor sich hin rottet, bis er sich als Kleinstpartikel wieder in meinem Abendessen, meinem Hering oder Lachsfilet wiederfindet. Ok: wenn ich unbedingt in Anspruch nehmen will, dass die Zukunft mir gehört, dann hätte ich hier die Bestätigung – aber ist das wirklich so, und will ich das so?

Prokrastination, also das Nicht-Erledigen und Nicht-Entscheiden ist kein Schicksal, sondern eine aktiv begangene Sünde, ein Diebstahl, ein Verbrechen an der Zukunft, und sei es in Form einer aktiven Unterlassung.

Zukunft, die wir so bereitwillig mit dem vollkleistern, was einfach jetzt vernünftig versorgt werden könnte, ist wie dieses Meer: Nur scheinbar weit weg, und nur scheinbar beliebig belastbar; voller potenzieller Schönheit und fundamentaler Bedeutung, aber unserer Dummheit und unserem Tages-Egoismus ausgeliefert und in seiner innewohnenden Freiheit und selbsterneuernden Kreativität bedroht.

Reicht eine solche Einsicht aus, um der Prokrastination einen Teil ihres Charmes zu nehmen? Oder ist der kurzfristige Bequemlichkeitsnutzen stärker als jede Vernunft?