Prokrastination und die Scham darüber

Erfolgreich oder auch nur haarscharf überstandene Prokrastinations-Erlebnisse, wenn sie nicht schamhaft verschwiegen werden, haben oft das Zeug zum Heldenepos, zu ruhmreichen Legenden, die am Stammtisch oder beim Jahrgangstreffen für anerkennendes und wohlwissendes Kopfnicken sorgen.

Für moralisch sensible Mitmenschen ist aber das Aufschieben meist etwas, das radikal gegen die eigenen Prinzipien verstößt, den Respekt vor sich selber unterläuft und unabhängig von irgendwelcher bewundernden oder belächelnden Gruppe zu starken Schamgefühlen sorgt: Scham darüber, dass man den inneren Schweinehund nicht bezwingen konnte, Scham, dass man sich selbst verraten hat, in der Verhandlung mit sich selbst unterlegen war, dass man auch so einer ist, der sich die „Studentenkrankheit“ eingefangen hat.

Solche Schamgefühle graben immer noch weiter am eh schon schwachen Selbstwert, das Abraummaterial häuft sich zu einem immer höheren Berg hinderlicher Gedanken und Selbstüberzeugungen, der einem freien und kreativen Umgang mit dem nächsten Aufschiebedrang im Wege steht.

Aus Schuldgefühlen, z.B. dass man mit einer durch Prokrastination vergeigten Prüfung unnötigen Druck und unnötige Kosten produziert hat, kann man sich noch irgendwie „ent-schuldigen“ (lassen). Schamgefühle kennen dieses Instrument nicht. Deswegen ist der Weg aus der Scham, vor allem aus der Scham sich selbst gegenüber, so unendlich lang und bitter. Die Scham bleibt lange ein Makel, der im Extremfall durch ein ultimatives Ritual, durch einen Selbstmord oder sonst einen grandiosen Akt der Wiederherstellung der „Ehre“ getilgt werden kann – und das auch nur scheinbar.

Wo die Schuld sagt “:Ich habe einen Fehler gemacht“, sagt die Scham: „Ich bin ein Fehler“, ein Urteil, dass sich nicht mehr auf ein einzelnes Tun oder Nicht-Tun bezieht, sondern die ganze Person in Frage stellt. So gesehen findet sich in der Scham eine starke narzisstische Komponente, die die Selbstbezogenheit sogar verbal deutlich zum Ausdruckbringt: „Man schämt sich“.

Die Klärung des inneren Konflikts, den die Scham gegenüber sich selber auslöst, erfolgt:

  • im Inneren, wo durch das Schamgeschehen ein Lernprozess in Gang gesetzt wird, eine schmerzhafte Auseinandersetzung, die langfristig eine Verhaltensänderung zum Ergebnis haben kann;
  • im Äußeren: Um die monologische Selbstbezogenheit der Scham aufzubrechen, ist es notwendig, den Dialog, das Gespräch mit Anderen zu suchen. Schamgefühle verschwinden nicht, indem wir uns ihrer still vor uns hin schämen. Wir müssen der Scham ins Gesicht schauen, sie differenzieren und einer vertrauenswürdigen Person offenbaren. Die Erfahrung zeigt, dass es äußerst befreiend und verbindend sein kann, wenn Menschen die Gelegenheit bekommen, über ihre Schamgefühle zu sprechen. Dabei geht es, anders als bei der Schuld, nicht darum, die Scham loszuwerden, zu überwinden oder wegzumachen. Denn so schmerzlich Schamgefühle sind, sie haben eine konstruktive Funktion, die sich erst dann zeigen kann, wenn wir uns der Scham stellen, sie aushalten, ansehen und sie durcharbeiten. Schamgefühle können nicht dadurch zum Verschwinden gebracht werden, dass wir uns ihrer schämen. Um mit ihnen umzugehen, bleibt nur die Möglichkeit, die Scham Scham sein zu lassen. Und uns zugestehen, dass Menschen Fehler machen, und dass wir die allerersten sein sollten, denen gegenüber wir bereit sind, Fehler zu verzeihen.

Das Anerkenntnis der eigenen Fehlerhaftigkeit mag an unserem Selbstbild nagen – das müssen wir aushalten. Wo uns das nicht gelingt, müssen wir einen Blick auf die Bedeutung des Themas Narzissmus in unserem Leben werden. Dazu gibt es im Blog einen eigenen Eintrag!