Perfektionismus – eigentlich doch super, oder?

Wir finden es selbstverständlich, dass wir alles richtig und ordentlich und möglichst „perfekt“ machen wollen. Eltern, Lehrer, Chefs – sie alle legen Wert darauf, und wir haben aus dem Perfektionismus längst eine „Tugend“ gemacht. Und wo das nicht funktioniert, machen wir uns lustig, treten „shitstorms“ los, mobben und grenzen aus. Und erkennen gar nicht, in welche Falle wir da hineinlaufen.

Denn auf der anderen Seite wissen wir, dass „perfekt“, das lateinische Wort für „erledigt, fertig“, nichts anderes bedeutet, dass die Entwicklung einer Sache abgeschlossen ist, und zwar endgültig. Wer aber will schon den absoluten Stillstand? Wir wissen, dass die Dinge um uns in Bewegung sind, wir verändern uns fortwährend, und die Begrüßung nach 20 Jahren: „Mensch, du hast dich ja überhaupt nicht verändert!“ kann einem nur einen Schrecken einjagen.

Perfektionismus bedeutet den untauglichen Versuch, einen irgendwie angenommenen „Idealzustand“ herzustellen. Und so bringen wir es nicht fertig, eine Aufgabe, und sei sie noch so eindeutig, an einer beliebigen Stelle zu beginnen, oder bewusst zum Abschluss zu bringen.  Denn hierdurch würde das Risiko irgendeiner Unzulänglichkeit festzementiert werden, und dann … ja was „dann“?

Dann käme etwas höchst Unangenehmes auf uns zu, das wir so genau gar nicht kennen, das aber sich schon emotional und sogar körperlich bemerkbar macht. Ein mieses Gefühl, dass sich massiv aufbaut, und das dringend nach Entspannung sucht – am besten dadurch, dass wir versuchen, nun doch noch ein bisschen „perfekter“ zu werden – koste es was es wolle.

Vielleicht ist es dieser immer neu unternommene Versuch, der in der Prokrastinations-Forschung zu der Entdeckung führte, dass die perfektionistisch motivierten Aufschieber in der Summe dann doch ein „bisschen weniger“ aufschieben als die „normalen“.

Statt über therapeutische Methoden wie etwa die kognitive Verhaltenstherapie mit Konfrontation und Exhibition, oder die Methode der Inhibition, oder über Medikamente zu sprechen, möchte ich hiereinen ästhetischen Aspekt in den Fokus der Überlegungen stellen:

Was sich inzwischen in unsere Einrichtungskultur eingeschlichen hat als „shabby chic“ oder „vintage look“ gerade das Unperfekte, Abgenuzte kultiviert und das Perfekte als langweilig und unecht definiert, findet sich bereits im buddhistischen Kulturkreis unter dem Begriff „wabi sabi“ als ästhetisches und religiöses Konzept: Anerkennen, dass nichts bleibt, nichts abgeschlossen ist, nichts perfekt ist. Auch wir kennen und anerkennen die berührende Schönheit des alten, lebenserfahrenen Gesichts, des knorrigen, wettergeformten und windschiefen Baums; die alten Gemäuer finden wir reizvoller als die modernen glatten Fassaden, und Antiquitäten und Oldtimer dürfen gerne ihre „‚Patina“ vorzeigen, die sie umso wertvoller macht. Das uns so regelmäßig eingebläute Konzept der (klassisch-griechischen) Schönheit und Perfektion hat sich ein Gegengewicht geschaffen, das der „Hoheit des Unscheinbaren“ eine neue Bedeutung gibt.

Der Verzicht auf das glatte, makellose Perfekte ist zugleich eine Verzichtserklärung gegenüber dem ungebremsten Konsum, der uns und dem Planeten keineswegs gut tut. Vor diesem Hintergrund bekommt die Abkehr vom Perfektionismus eine neue zukunftsweisende und ethische Dimension, die es durchaus erleichtern kann, sich von dem Denkfehler und der Starrheit des Perfektionismus zu verabschieden. Und mit dem, was wir tun, im Fluss zu bleiben.