ist „morgen“ wirklich erst morgen?

Prokrastinieren heißt auf deutsch: „auf morgen verschieben“ – wo ist der Fehler?

Ich muss zum Bahnhof, die Straßenbahn dorthin fährt in 8 Minuten. Ich hasse es, in der Kälte zu warten, deswegen habe ich mir auf der App die letztmögliche Bahn gesucht. Ich brauche 5 Minuten zu Haltestelle, also schnell noch die Fahrkarte einstecken- verdammt, warum geht die Schublade nicht auf! Das Portemonnaie ist in der anderen Hose. Der Haustürschlüssel nicht am Haken – ach ja : Ich habe ihn vorsorglich längst eingesteckt. In einer Minute muss ich aus dem Haus, alles cool. Die Schuhe noch, der rechte Socken schiebt sich in der Eile aus dem Schuh über die Ferse – sieht blöd aus, ist aber jetzt egal. Mit fliegenden Fingern knibble ich den alten Knoten auf, glücklicherweise hält das Schuhband diesmal noch durch. Jetzt los!

Der Aufzug braucht zu lange, der Spurt die Treppe hinunter macht schon mal warm für den Sprint zur Haltestelle. Glück gehabt! Die anderen Fahrgäste stehen noch da und schauen erwartungsvoll die Schienen hinunter. Die Wartezeit ist für’s Luftholen ganz gut, aber auf die Dauer nicht beruhigend: Die Bahn weiß nicht, dass ich es eilig habe, und die Anzeigetafel zeigt Niederschmetterndes: Mit einer zu erwartenden Zwangspause von 10 Minuten werde ich zu spät am Bahnhof eintreffen und den Zug verpassen. OK, das kann man handlen, anrufen, Entschuldigung finden, Termin verschieben – alles ist möglich, Flexibilität und Improvisation sind Fähigkeiten, die trainiert werden wollen. Aber Stress kostet Konzentration und Qualität – und Lebenszeit!

Aufschieben zu müssen ist oft das Resultat einer ziemlich (Entschuldigung!) schlampigen Lebensführung. Ich könnte auch sagen „libertär“, was hier so viel bedeuten kann wie minimale Einschränkung bei maximalem Entscheidungsspielraum und mit größtmöglichem Freiheits- und Genussfaktor. Aber Vorsicht: Der ideale selbstbestimmte, kontrollierte, rational denkende, ungebundene und universell perfekte Mensch ist eine Utopie, der wir uns allenfalls mit einer guten Portion Disziplin nähern können.

Zeiteinteilung und eine entspannte Abstimmung mit den absehbaren äußeren Erfordernissen hat nichts mit Unterwerfung unter ein fremdes Diktat zu tun. Nur wer bereits in frühen Jahren sich ein Autoritätsproblem eingesammelt hat, wird den Widerstand gegen hilfreiche Ordnungsstrukturen als normal und für ihn segensreich empfinden.

Wer aufräumt ist nicht nur sprichwörtlich „zu faul zum Suchen“, er ist seltener zu Besuch beim Kardiologen, hat ein geringeres Diabetes-Risiko, vermeidet Unfälle durch Hast und Hektik, hat insgesamt eine geringere stressbedingte Abnutzung. Wer seinen Terminkalender und seine räumliche und organisatorische Umgebung in Ordnung hat, wird weniger oft gezwungen, Verabredungen oder auch private Vorhaben zu verschieben, und kann die Zeit besser für sich nutzen. Prokrastinationsvermeidung fängt immer im Bereich der Vorbereitung und dort sehr kleinteilig an.

Das „morgen“ ist ein großer Begriff, der schon heute, und zwar jetzt beginnt: Oft reichen ein paar wenige Minuten, um ein ganzes Planungskartenhaus um Einsturz zu bringen. Dass das nicht sofort wieder neu aufgebaut sein kann, und dass die Dinge folglich auch „morgen“ noch nicht erledigt sein werden, ist der folgerichtige zweite Teil der Geschichte…