PROKRASTINATION – EIN WEG DER KRISENBEWÄLTIGUNG

Wenn eine Videosequenz oder eine Nachricht „viral“ durch das world-wide web geht, verstehen wir genau, was damit gemeint ist: dass die Verbreitung sehr schnell, vielleicht sogar exponentiell vorangeht – so wie ja auch das akute pandemische Virus sich jetzt verbreitet.

Viral geht zu schnell

„Viral“ werden wir derzeit überschwemmt von unzähligen neuen Gedanken und Sorgen, ungewohnten Erledigungen und Entscheidungen, die die neue Situation plötzlich und in allen Bereichen von uns abverlangt: Neue Arbeitsformen und -umgebungen, neue und distanzierte Kommunikationsformen, erschreckende Einschränkungen unserer Freiheiten, unserer sozialen Umgangsformen, unseres freundschaftlichen, liebevollen und familiären Austauschs. All das ist nicht eingeübt, sondern praktisches und emotionales Neuland. Und obendrein wird diese Masse an Herausforderungen begleitet von einer gesundheitlich nicht vorhersehbaren, wirtschaftlich nicht einschätzbaren, möglicherweise existenziellen Bedrohung, die unseren so wichtigen Glauben an eine verlässliche Geregeltheit unseres Alltags zutiefst erschüttert.

Häufig genannte Metaphern von Tsunami oder Erdbeben versuchen das auszudrücken, was wir als ein tiefes Unbehagen erleben, weil ein wesentliches Gefühl von Handlungs- und Entscheidungssicherheit uns derzeit verloren geht.

Aufschieben als Schutzmechanismus

Ein erprobtes und eine zeitlang durchaus Entspannung bietendes Gegenmittel, die Prokrastination, steht uns unter dem Druck der Ereignisse nicht zur Verfügung. Alles muss sofort geregelt werden, ob wir können oder nicht. Langes Nachdenken, Zögern, „Abwarten und Tee trinken“ oder „eine Nacht drüber schlafen“ sind ja nicht per se schlecht, im Gegenteil: Die „ruhige Hand“ ist eine der guten Seiten der Prokrastination. Die aber steht zur Zeit nicht zur Verfügung. Menschen arbeiten und leiden bis zum Anschlag, und der Ausweg in die Prokrastination ist ihnen versperrt. Lediglich ein Grund für das Aufschieben hat jetzt noch Berechtigung: das Aufschieben und möglichst lange Vor-sich-Herschieben des zu erwartenden Infizierungshöhepunktes.

Aufschieben als Entschleuniger

Aufschieben ist eine natürliche Reaktion, mit der der Mensch sich möglichst kurzfristig, aber auch möglichst konsequent aus einer bedrohlichen Schusslinie bringen möchte. Wenn dieses Mittel nicht zur Verfügung steht, weil gleichzeitig der Druck im Kessel steigt, erhöht sich die Gefahr, dass uns diese Situation zu sehr in Atem hält. Nicht nur auf dem Krankenlager, auch uns anderen Betroffenen geht die Luft aus, weil wir nicht erkennen, was wir in dieser Situation noch aufschieben können.

Tatsächlich soll an dieser Stelle auch einmal eine Lanze für das Aufschieben gebrochen werden: Es ermöglicht uns, einen wichtigen Moment lang Abstand zu nehmen, Luft zu schöpfen und nachzuschauen, welche Komponenten unseres Projekts wir noch stärken müssen, um weitermachen zu können.

Paradoxer Weise darf also für uns als Schwerpunktpraxis Prokrastination eine mögliche Reaktion auf die viral entstandene Krise auch sein: Unterstützung zu geben, wenn der Mangel an Ausweichs- und Prokrastinationsmöglichkeiten als beengend und belastend, deprimierend oder beängstigend erlebt wird. Beratung, Coaching und psychotherapeutische Unterstützung nicht, um Prokrastination zu überwinden, sondern um die Unmöglichkeit von Prokrastination erträglicher zu machen.

Denn wenn auch das Prokrastinieren zweifellos kontraproduktiv und zerstörend sein kann, so bietet die Möglichkeit des Aufschiebens doch auch eine zutiefst menschliche und wichtige kreative und beruhigende Handlungsoption.