Nicht-Zuendebringen und Prokratination in der Literatur

Theognis von Megara (570 – 485 v.Chr.)

Wie ein Löwe, vertrauend der Kraft, entriss ich der Hirschkuh

mit den Tatzen das Kalb; aber ich schlürfte kein Blut.

Hoch die Mauern erklomm ich, zerstörte jedoch nicht die Festung.

Anspannen ließ ich, doch stieg nicht in das Fahrzeug hinein.

Tätig, erwirkte ich nichts und strebte ohne Ergebnis;

fleißig, vollbrachte ich nichts, führte kein Handeln zum Schluss.

 

Marcel Proust (Auf der Suche…) 1871 – 1922

Wäre ich weniger entschlossen gewesen, mich endgültig an die Arbeit zu machen, hätte ich vielleicht einen Versuch unternommen, gleich damit anzufangen. Da aber mein Entschluss in aller Form gefasst war (und noch vor Ablauf von 24 Stunden im leeren Rahmen bis morgigen Tages, wo sich für alles – da ich mich ja noch nicht darin befand – Platz finden ließ, meine guten Vorsätze sich leichthin verwirklichen würden),, war es besser, nicht einen Abend, an dem ich schlecht aufgelegt war, für den Beginn zu wählen – dem die folgenden Tage sich jedoch leider ebenfalls nicht günstiger zeigen sollten…

Ich riet mir selbst zur Vernunft. Von dem, der Jahre gewartet hatte, wäre es kindisch gewesen, wenn er nicht noch einen Aufschub von drei Tagen ertrüge…

Unglücklicherweise war der folgende Tag auch nicht der weit offen vor mir liegende Zeitraum, den ich fieberhaft erwartet hatte. War er zu Endegegagen, hatten meine Trägheit und mein mühevoller Kampf gegen gewisse innere Widerstände nur vierundzwanzig Stunden länger gedauert…

Ich brauchte, bevor ich zu meinem Tatendrang zurückfand, ein paar Tage der Entspannung…

 

Senecas (erster Brief an Lucilius) 4 v.Chr – 65 n.Chr

… und wenn Du aufmerksam sein willst: ein großer Teil des Lebens entgleitet den Menschen, wenn sie Schlechtes tun, der größte, wenn sie nichts tun, das ganze Leben aber, wenn sie Nebensächliches tun.» (EM, 5)