Improvisieren ist besser als Prokrastinieren

Wer meinen Beitrag zur „Fermate“ gelesen hat, weiß, dass ich die Sprache und die Gesten der Musik liebe und sie auch in unserem Alltag wiederfinde. Als Klavierspieler ist mir die Fermate dafür ein gutes und hilfreiches Beispiel: Mit ihrem beherrschten Aufschieben und Tempoverzögern hat sie durchaus ihre dramatische Berechtigung, ständig und auf die Dauer angewendet wird sie allerdings unerträglich.

Eine schöne Metapher ist mir auch die Improvisation. Sie steht in engem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Perfektionismus, der beispielsweise einen Musiker antreibt, sein Stück „konzertreif“ auszuarbeiten. Da wird an jeder Note, jeder Phrase, jedem Ausdruck endlos gefeilt, um der Idealinterpretation möglichst nahe zu kommen. Kein Wunder, dass die heute in der Regel nur noch in Studioarbeit und vielfachen Schneidesequenzen erreicht wird.

Im Gegensatz hierzu sollten Sie sich (YouTube ist voll davon!) das Improvisationsspiel einer Gabriela Montero anhören: Sie lässt sich aus dem Publikum ein (oft ihr selbst unbekanntes) Thema zurufen (warum nicht „Mr lasse d’r Dom en Kölle“?), überlegt einen intensiven Moment, und macht daraus etwas, das sich der Wertung von „richtig“ oder „falsch“ gänzlich entzieht – und ausnahmslos alle begeistert.

Die Angst vor der leeren Seite, der weißen Leinwand, dem ersten Schritt, dem großartigen Projekt löst sich mit der Improvisation auf im Tun. Die Pianistin kommt nicht auf die Idee, die Umsetzung des spontanen Themenvorschlags auf morgen zu verschieben – wozu auch?

Wenn man ihr bei ihrem Dialog mit dem Publikum zuschaut, spürt man diese doppelte Lust, bei der das „Aufschieben“ eine inexistente Rolle spielt: die Lust am Spiel mit den Ideen und am Spiel mit dem musikalischen Instrument. Es gibt keinen Grund, sich nicht sofort auf die vergnügliche Erledigung zu stürzen, sich stattdessen dieser Lust zu versagen. Natürlich weiß sie, dass sie es „kann“: Sie verfügt über genau die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sie benötigt, um bei ihrem Publikum das abzuliefern, was sie versprochen hat. Könnte sie es nicht, würde sie (hoffentlich) etwas anderes tun – genauso wie Sie, oder improvisieren vor Publikum?

Also sorgen Sie weiterhin dafür, dass Sie das tun, was Sie versprechen, und tun Sie’s. Das bringt allen Seiten Freude, und Sie brauchen nichts aus lediglich befürchteter Kritik nichts aufzuschieben. Oder versprechen Sie nichts, wenn Sie spüren, dass Sie es nicht einhalten können. Sie finden Andere, die es an Ihrer Stelle erledigen können.

Improvisation hilft auch dabei, den Anspruchslevel herunter zu nehmen, die Dinge nicht übertrieben ernst zu nehmen, und ruhig auch dann einmal schon anzufangen, wenn das Ganze noch nicht in allen Einzelheiten durchgeplant ist.