Ich / würde (3)

Wenn es beim Aufschieben darum geht, eine unangenehme Entscheidung (jetzt) nicht treffen zu wollen, eine unbequeme Erledigung (jetzt) nicht hinter sich zu bringen,  kann man sich fragen, ob es Tricks und Tipps  gibt, mit denen man sich trotzdem in die Lage versetzen kann, das Wichtige sofort zu erledigen. Neben den Tipps und Tricks sind auch ganz persönliche Hinterfragungen hilfreich, die nach dem LEZGO!-Schema ablaufen und sehr schnell Klarheit bringen können.

Eine andere Herangehensweise entsteht, wenn man sich fragt, wie man sich ein solches als ärgerlich empfundenes Verhalten überhaupt hatte einfangen können. Es gibt dazu sehr einleuchtende Antworten, die uns aus der Entwicklungspsychologie geliefert werden. Dort wird beschrieben, wie das unbeschriebene Blatt des Neuankömmlings auf dieser Welt sich in bestimmten Schritten individuell und in seiner Gemeinschaft seine Formen annimmt: Das Erlebnis, sich erst als Ich zu verstehen, dann als Individuum, als Wesen mit immer neuen wirksamen Bindungen und  prägenden Lernerfahrungen. In ihr bereitet sich das vor, was schließlich die Identität jedes einzelnen Menschen ausmacht, seine Werte, seine Persönlichkeitszüge, und damit auch seine Bereitschaft und persönliche Kompetenz, Unangenehmes lieber zu ertragen als sich ihm zu beugen.

Diese „Identität“ zeigt das Selbst-Bild, das Bild von dem, wer und was und wie man sein will, die Grenzen der  möglichen Zugeständnisse, und damit den Rahmen der persönlichen Würde, die wir in unserem Grundgesetz geschützt wissen wollen. Diesen Rahmen zu kennen und als verbindlich anzuerkennen macht mich zum Gestalter meines eigenen Entwicklungsprogrammes, innerhalb dessen man zwar versuchen kann, mich meiner Würde zu berauben, ich mir selber aber tunlichst meine Würde nicht verletzen werde. Menschen, die unsere Bewunderung verdienen, haben diese Würde über den Wert ihres eigenen Lebens gestellt – eine Größe, die nicht jedem gegeben ist.

Einflüsse der frühen Entwicklungszeit, Bindungsprägungen, Lebens-Erfahrungen, frühe seelische Verwundungen können es mit sich bringen, dass die Frage: „Und wovon lebt der Mensch?“ dauerhaft beantwortet wird mit: „Erst kommt das Fressen, und dann kommt die Moral!“, wie es Berthold Brecht formuliert hat. Dann kommt es zum doppelten Verrat: Verrat an sich und den ureigensten Maximen, und Verrat an den Anderen, deren Interessen nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

Prokrastination treibt diesen Verrat Schritt für Schritt in Bereiche, die ein Gegensteuern erforderlich machen. Aufschieben ist ein ziemlich perfider, weil unaufrichtiger, unausgesprochener Verrat, der sich aus sich selbst heraus in Gang hält und vorantreibt. Er führt im Extremfall zum gesundheitliche, finanziellen und persönlichen Zusammenbruch, und ist nur durch schonungslose Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, die Bereitschaft zu Veränderung, und, im derart fortgeschrittenen Stadium, durch konsequente und verständige Unterstützung aus dem Verhaltensrepertoire zu verbannen.